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Haben Sie den Film „Der Club der toten Dichter“ gesehen? Ist schon etwas länger her… 1989. Dann ist Ihnen der Leitspruch der Club-Mitglieder vermutlich geläufig: „Carpe Diem!“ Zu Deutsch: „Nutze den Tag!“ Und wenn Sie darüber hinaus auf der aktuellen Achtsamkeitswelle surfen, dann ist Ihnen ein weiterer Leitspruch vertraut: „Lebe hier und jetzt!“ Tatsächlich weisen beide Aufforderungen den Weg zu einem intensiven und gelassenen Leben. Doch so romantisch, wie es sich im ersten Moment anhört, ist es leider nicht…

Bei sich bleiben, mit dem Leben in Kontakt bleiben, wenn es sich gut anfühlt, ist einigermaßen einfach: wenn die Sonne scheint, das Konto gut gefüllt ist, die Perspektiven klar und attraktiv, wenn wir von unseren Lieben umgeben sind, uns fallen lassen können und Menschen oder ein weiches Ledersofa uns auffangen.

Die Kunst: Wohlwohlend in Kontakt mit sich bleiben, wenn es weh tut. Dasein mit der Traurigkeit, dem Schmerz, den erwachsenen Kinderängsten vor Tod und Untergang. Im Kontakt mit unseren Gefühlen und unserer Wahrnehmung bleiben, wenn Menschen gehen oder sich abwenden. Dableiben, wenn der Zahnarzt routiniert den Bohrer ansetzt und ausnahmsweise abrutscht oder der ICE mal wieder eine Stunde Verspätung hat.

Bei sich bleiben, wenn der geliebte Hornochse von Freund einen Riesenaufstand probt oder die sonst so süßen Kinder mit verschränkten Armen trotzig vor den Hausaufgaben bocken. Wohlwollend bei sich bleiben, wenn der Sohnemann seinen Lebenskarren ein weiteres Mal in den Dreck fährt, um Geld und Obdach bittet, während man ihm beides weder geben kann, noch will.

Dableiben, wenn der Kumpel seine Eltern, seine Freunde und die ganze Menschheit verflucht und zwischen allen Zeilen das Gift seines möglichen Suizids versprüht. Dableiben, wenn man nicht mehr weiter weiß, man sich kaum noch bewegen kann und der Wasserpegel das Atmen nahezu unmöglich macht. Dableiben, wenn keine Rettung in Sicht scheint. Vertrauensvoll dem Leben zugewandt bleiben, wenn es scharf, salzig oder sauer schmeckt – das ist nicht immer einfach.

Im Alltag knallen wir uns raus mit Facebook und Fernsehen, Geschäftigkeit und Geselligkeit, den Problemen und der vermeintlichen Dummheit der anderen. Im spirituellen Leben breiten wir einen Teppich aus asketischer Praxis, religiösem Eifer und rechtschaffenem Engagement über die feinen, echten und wichtigen Schmerzen. Im Beruf toben wir uns in ehrgeizigen Projekten aus, stellen Ziele und Vorgaben ins Zentrum und schalten unser Gespür für uns selbst, die anderen und die Dinge mit ausdauernd geübter Coolness, genannt „Professionalität“, auf Standby.

In meinem Leben bin ich lange gerannt – immer weg von diesen einfachen, tiefen und direkten Schmerzen, immer unterwegs zu großen Zielen mit Lärm und riesigem Tamtam. Manchmal passiert es mir immer noch, wenn es eng wird oder alte Schmerz- und Leidensmuster aktiviert werden. Dann versuche ich immer noch zu entkommen, damit ich nichts mehr spüren, sehen und ertragen muss.

Doch es ist schwer, diese Strategie durchzuhalten, ohne sich dabei umzubringen oder andere ernsthaft zu gefährden. Mit jedem Selbstverrat wird der nächste schwieriger und damit die Einladung des Lebens deutlicher, sich diesem zuzuwenden. Die Einladungen scheinen immer wieder unannehmbar. Und doch sollen wir uns darauf einlassen und uns überraschen lassen, was wirklich passiert, wenn wir stillhalten, dableiben und Frieden schließen mit uns, der Welt und dem Leben.

[Tweet “Bei sich bleiben ist unbequem und heilsam”]

Dableiben mit dem Wesentlichen, atmen, fühlen und achtsam sein ist so schlicht, so direkt und so gar nicht einfach in den bitteren Momenten. Und dennoch sind es genau diese Momente, ist es genau dieses Dableiben, das uns erlaubt, in ein friedvolles, freudvolles und gelassenes Leben zu finden – weniger durch die schmerzhafte und unbequeme Qualität dessen, was wir in bitteren und bedrohlichen Momenten erfahren, als durch die liebevolle, heilsame und erlösende Qualität unserer Achtsamkeit.

Wenn wir den Kampf mit der Wirklichkeit beenden und uns offen in unserer Lebenslandschaft umsehen, dann wird vieles möglich. Mit offener Achtsamkeit – auch und gerade in den schwierigen Momenten – finden wir ganz natürlich Zugang zur friedlich pulsierenden Dimension des Lebens und können deutlicher erkennen, in welche Entwicklungsrichtung es uns ruft.

Achtsames Dasein ist somit etwas anderes als stoische Duldsamkeit. Es führt weit über Passivität und Schicksalsergebenheit hinaus. Denn Dableiben bedeutet zwar einerseits das Schmerzhafte sehen und spüren, darüber hinaus aber, die wesentlichen Spielräume und Entwicklungsmöglichkeiten erkennen, welche bei genauer und ruhiger Betrachtung sichtbar werden.

Im Hadern und Kampf mit der Wirklichkeit kultivieren wir Schmerz, Unerfreuliches und Not. Vielleicht findet Entwicklung statt. Aber meist handelt es sich dabei um leichte Verschiebungen vom Regen in die Traufe oder um handfeste Eskalation – oft unter der Oberfläche lärmender Betriebsamkeit, gefühlloser Apathie und kontinuierlichem Gejammer.

Evolution, also produktive und erfüllende Entwicklung, geschieht dort, wo wir uns auf die Gegenwart einlassen und Frieden schließen mit dem was ist – auch und gerade mit dem Schmerzhaften. Denn erst dann, wenn wir in innigem Kontakt mit dem Leben, also vom Frieden aus handeln, können wir wirklich Neues und Lebenswertes bewirken, ermöglichen und hervorbringen.

„Wie genau“ fragen Sie? Nehmen wir für den Anfang ein handhabbares Beispiel von oben:

Erleichtern Sie Ihrem Zahnarzt die Arbeit und Ihrem Körper die Heilung. Bleiben Sie da! Helfen Sie mit! Lassen Sie geschehen!

Erinnern Sie den Panikmacher im Kopf daran, dass es da unten noch Füße, Beine und weitere Körperteile gibt, die sich über einen Besuch Ihres Bewusstseins freuen. Nutzen Sie die geniale Gelegenheit, wenn der Zahnarzt oben die Spritze ansetzt: Halten Sie mit 10% Ihrer Aufmerksamkeit den Mund brav offen und schicken Sie 90% Ihrer Aufmerksamkeit auf ein Kaffeekränzchen zu Bauch, Beine, Po.

Erinnern Sie Ihre Ohren an Mozart, Eminem oder The Guess Who, wenn diese gequält nach einer Möglichkeit suchen, dem pfeifenden Bohrer zu entkommen. Reichern Sie das Unbequeme und Unangenehme mit Krassem oder Wunderschönem an. Tun Sie in innigem Kontakt mit dem was ist einfach das, was gerade dran ist. Und seien Sie mal ein bisschen kreativ. Das ist vielleicht viel öfter dran, als Sie denken, sich gönnen oder trauen.

Machen Sie langsam. Sie müssen Ihre Burg der Wirklichkeitsflucht nicht gleich aufgeben. Halten Sie den Teer ruhig noch eine Weile warm und die Federn parat. Schwenken Sie eine weiße Fahne. Kultivieren Sie Behutsamkeit und existenzielle Ausdauer.

Ihre innere Investition in die offene Verhandlung mit dem Erzfeind „Schmerz“ mag Ihnen anfänglich unverschämt hoch erscheinen, doch der Lohn für diese Investition wird Sie auf Dauer vom Hocker hauen. Hoffen Sie nicht auf ganz schnelle Veränderungen und Lösungen. Üben Sie sich in Vertrauen und kluger Geduld.

[Tweet “Frieden mit der Wirklichkeit beginnt mit einem einseitigen Waffenstillstand.”]

Geben Sie mir irgendwann in ein paar Wochen, Monaten oder Jahren eine Rückmeldung, ob, wie und was für Sie funktioniert hat. Unten in den Kommentaren, per Facebook oder sonst irgendwie.

Und stecken Sie andere mit dem heilsamen Virus des Dableibens an. Ganz gemütlich, indem Sie mal freundlich reden, mal freundlich schweigen und manchmal, in ganz übermütigen Momenten, wildfremde Menschen mit einem Lächeln oder einer (selbst)ironischen Grimasse aus ihrem tristen Tran erlösen.

Mista Lazy Moe

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