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Thomas Merton war ein spät zum Katholizismus bekehrter Trappistenmönch. Er lebte als Mitglied eines Schweigeordens, in der Abtei Getsemani in Kentucky, doch ging er in seiner Sehnsucht nach Einkehr und Kontemplation weit über die Strukturen und Rituale seines Ordens hinaus. Darüber hinaus suchte er tiefen intellektuellen und spirituellen Austausch mit den östlichen Religionen – ähnlich wie andere Ordensleute, die beispielsweise als Missionare in Indien und Japan mit den dortigen spirituellen Traditionen in Berührung kamen.

In seinem Buch “Seeds of Contemplation” schreibt er: “Zumindest einen Raum oder eine Ecke solltest du für dich haben, wo dich niemand findet, niemand stört, niemand beachtet. Dort solltest du die Freiheit haben, dich von der Welt zu lösen und dich loszulassen, indem du alle feinen Saiten und Fasern der Spannung löst, die dein Schauen, dein Hören, dein Denken in der Gegenwart anderer Menschen binden. Hast du einen solchen Platz gefunden, sei zufrieden damit und sei nicht verwirrt, wenn dich ein guter Grund davon wegruft. Liebe ihn und kehre zu ihm zurück, sobald du kannst.”

Wir können einen solchen Raum des Rückzugs, von dem Merton spricht, als wundervolle Chance begreifen. Zumal, wenn wir auf vielfältige Weise in Beruf, Ehrenamt und Familie eingebunden sind. Häufig sehnen wir uns genau nach solch einem Rückzugsort und glauben, wir könnten dort einfach und direkt Ruhe und Erholung finden. Aber wir erklären uns selbst und anderen gerne, warum unser Alltag kaum Zeit für solch müßige Ausflüge in die Stille lässt.

Wir führen äußere Bedingungen ins Feld und begründen unsere Entscheidung für Aktivität und manchmal Aktivismus mit Zwang und Not. Wir ahnen nur, aber sind uns nicht wirklich bewusst, wie sehr wir uns vor der Stille fürchten. Wir haben Angst vor dem Lärm unserer inneren Unruhe, vor unserer existenziellen Verwirrung und dem Drängen großer Fragen, die dort in der Stille auf uns warten. Der Horro Vacui, die panische Angst vor der Leere, ist vor allem Angst vor den monumental eingebildeten Abgründen an der Oberfläche unseres Wesens. Manchmal hausen in dieser vermeintlichen Einsamkeit düstere Gesellen und die Stille ist viel lauter als wir denken.

Aber es gibt ein tieferes Ahnen, welches sich in dieser lärmenden Stille erschließt und das von einer weiten und tiefen Stille kündet, die unter und hinter all dem äußeren und inneren Lärm auf uns wartet…

Wir können einen solchen Raum des Rückzugs auch als Fluch begreifen. Zumal, wenn wir viel Zeit alleine verbringen, vielleicht alleine leben und durch schwierige Zeiten gehen. Wenn wir uns nach Halt, Geborgenheit und inspirierendem Austausch in der Beziehung zu lieben Menschen sehnen. Dann erleben wir einen solchen Raum als Gefängnis, in welchem wir einsam und abgeschnitten von der Welt unser Dasein fristen.

Aber trotz dieser unbequemen Gefühle und Gedanken vollziehen sich in diesen Zeiten der Einsamkeit und der Sehnsucht nach Begegnung manchmal Prozesse, die wir kaum kontrollieren und machen können. Prozesse der Heilung, die uns in ein tiefes, manchmal beängstigendes inneres Labyrinth zu führen scheinen. Manchmal erkennen wir erst dann, wie lange wir schon unbemerkt in diesem Labyrinth gelebt haben und finden endlich den roten Faden, der schon so lange dort herum lag und aus dem Labyrinth hinaus auf die sonnigen und fruchtbaren Felder einer produktiven und gelassenen Existenz führt.

Und manchmal erkennen wir dann, in der folgenden Begegnung mit der Welt, auf welch erstaunliche Weise wir in erlittener Abgeschiedenheit und einsamer Not gelassener, selbstbewusster (im wahren Sinne des Wortes) und in unserem Handeln wesentlicher geworden sind…

Ein Raum der Stille kann sich also als ersehnter Zufluchtsort erweisen, an welchem wir unsere Wunden lecken, zur Ruhe kommen und uns erholen. Ein Ort, der uns auch ein bisschen Angst macht. An welchem wir aber, jenseits der Angst in eine tiefe Geborgenheit und Ruhe finden können. Ein Ort der Stille kann auch ein unbequemer Ort der Besinnung und Einsamkeit sein, an welchem wir dennoch Heilung finden, zu uns kommen und unsere tief menschlichen Beweggründe freilegen, um dann, jenseits der Stille, einen beseelten Weg in die Welt zu finden.

So oder so: Ein Raum der Stille ist kein Ort, an dem wir bleiben können und sollen. Er drängt uns immer wieder an die Schwelle zur Welt und zu neuer Begegnung und führt somit weit über Erholung und Kontemplation hinaus.

Die alte Frage danach, ob wir besser ein aktives oder ein kontemplatives Leben führen sollen, löst sich im wahrsten Sinne des Wortes in Wohlgefallen auf. An diesem Ort und ausgehend von diesem Ort finden wir in unseren natürlichen und heilsamen Rhythmus. Im Schwingen zwischen Rückzug und Stille einerseits sowie Engagement und Aktivität andererseits, folgen und verwirklichen wir unsere doppelte Mission:

  1. Wir folgen dem Ruf der Individuation nach eigensinniger und einzigartiger Entwicklung in die Welt hinein. Wir entwickeln unsere Talente und teilen unsere Geschenke mit den Menschen.
  2. Wir folgen dem Ruf nach Transzendenz, welcher uns ins Paradies ewiger Gegenwärtigkeit führt und uns tiefe Geborgenheit im Leben finden lässt.

In dieser doppelten, manchmal knirschenden Bewegung löst sich die Trennung zwischen uns und der Welt bitter-süß auf. Ungefähr so wie ein Stückchen brauner Rohrzucker in einem doppelten Espresso. Wenn wir beherzt und geduldig rühren.

Haben Sie schon einen Raum der Stille und des Alleinseins? Wie oft ziehen Sie sich dorthin zurück? Oder haben Sie noch keinen und es wird Zeit einen zu finden oder zu schaffen? Ich freue mich über Ihre Gedanken in den Kommentaren!

Mista Lazy Moe

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Join the discussion 3 Comments

  • Michael Funk sagt:

    Lieber Martin,
    in diesem Zusammenhang verweise ich auf folgendes:

    http://info.kopp-verlag.de/neue-weltbilder/phaenomene/steve-watson/studie-lieber-einen-elektroschock-als-15-minuten-allein-mit-sich-selbst.html

    Traurig nicht wahr?
    Wie werden zukünftige Generationen mit dem Thema umgehen? Spannende Frage.

    • Hi Michael,

      Danke für deinen Kommentar und entschuldige die späte Antwort.

      Du schreibst, es sei traurig. Das kann ich verstehen, doch manchmal belustigt mich das ganze Gezappel auch ein bisschen. Und ich muss zugeben, dass ich ein Kind dieser Gesellschaft bin. Ich habe selbst jahrzehntelang wie ein Wilder vor mich hin gezappelt, selbst in der vermeintlichen Einsamkeit auf dem Meditationskissen. Wenn man keine Elektroschocks zur Hand hat, dann lassen sich auch andere ausgebuffte Optionen nutzen – zum Beispiel Knie- und Rückenschmerzen – schon hat man wieder etwas zu tun…

      Die einen handeln Achtsamkeit und Meditation als ultimative Antwort auf die Fragen unserer Zeit, die nächsten Zielorientierung, Selbstentfaltung oder gesamtgesellschaftliche Umbrüche. Ich glaube, wir müssen uns langsam an den Gedanken gewöhnen, dass es keine einfachen, einseitigen und statischen Antworten gibt und geben kann.

      Es ist spannend, über künftige Generationen oder die anderen im Allgemeinen nachzudenken. Noch spannender finde ich es, ehrlich in den Spiegel zu schauen, mich selbst zu hinterfragen und mich hier und jetzt an eigenen Antworten auf die wesentlichen existenziellen Fragen zu probieren.

      Das Alleinsein, vor dem die meisten Menschen davon laufen, ist die Realität des Abgeschnittenseins vom Leben selbst. Wir laufen davon, weil wir uns einerseits leer, kalt und verloren fühlen, wo wir vom Leben abgeschnitten sind und andererseits, weil wir Angst vor den Emotionen, Blockaden und negativen Mustern in uns haben, die wir unweigerlich berühren, sobald wir uns auf die Reise in die Mitte begeben. Siehe hierzu auch folgende FB-Notiz, wenn du magst: https://www.facebook.com/dasproduktiv/posts/854878784530090.

      Wo wir uns aber mit uns selbst und dem Leben verbinden, sind Einsamkeit und Alleinsein ausgeschlossen. Wir fehlen uns selbst und suchen da draußen. Ich versuche mit Impulsen an unterschiedlichen Orten auf gangbare Wege in unsere Mitte und in die Mitte des Lebens selbst zu verweisen…

      Peace, Michael, und liebe Grüße
      Martin

  • Etwas Technisches noch, Michael:
    Ich freue mich sehr über deinen Kommentar, muss aber zugeben, dass die Kommentarfunktion in meinen Blogs seit Jahren nur von wenigen genutzt wird. Anfangs dachte ich, irgendetwas stimme mit meinen Artikeln nicht oder zu wenige Menschen kämen überhaupt in Berührung mit diesen.

    Tatsächlich bin ich nicht bis auf den Grund dieses Phänomens vorgestoßen. Habe aber glücklicherweise einige andere Dinge zu tun, die mir aktuell wichtiger erscheinen. Ich akzeptiere diese Situation ebenso als Resonanz der Dinge wie meine Tendenz, mir Zeit zu nehmen, und manchmal, von der Länge her, neue Blogbeiträge in den Kommentaren zu verfassen (siehe oben) ;-).

    Diese Art, mit Interesse, Engagement und Anfragen umzugehen ist intensiv und zeitaufwendig. Da möchte ich sicher gehen, dass mein Engagement gewürdigt wird und ich Menschen erreiche, die sich wirklich intensiver mit sich und ihrem Weg auseinandersetzen wollen. Für dich gilt das bestimmt und sicher für alle, die bisher in den unterschiedlichen Auflagen meiner Blogs kommentiert und mitdiskutiert haben.

    Dennoch habe ich mich entschlossen, die Kommentarfunktion für zukünftige Beiträge abzuschalten und stattdessen einen verbindlicheren Kontext zu schaffen, in dem Interessierte inspiriert und gelassen lernen und diskutieren können.

    Wenn ich soweit bin, werde ich hier einen Link setzen. Ich hoffe, du kannst diese Entscheidung nachvollziehen und bleibst mir und den Beiträgen hier trotzdem treu.

    Als kleines Trostpflaster (falls du Facebook nutzt): Ich verlinke die Artikel auf meiner Facebookpage (http://www.facebook.com/dasproduktiv). Vielleicht ergibt sich ja dort das eine oder andere “Gespräch”

    Herzliche Grüße
    Martin

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