Ich zitiere oft einen Gedanken, der sehr viel zum Frieden unter Menschen beitragen könnte. Was bleibt mir denn? Heinz von Foerster: “Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners.”
Wenn wir denken, reden und schreiben, dann benutzen wir immer wieder Worte wie “Wirklichkeit”, “Realität” und “Wahrheit”. Manchmal tun wir so, als würden wir wahre Dinge über uns und unser Leben denken, sagen und schreiben. Kämpfen mit anderen um unsere Anschauungen, unsere Perspektive auf die sogenannte “Wirklichkeit”.
Vielleicht aus Freude an der intellektuellen Auseinandersetzung und Erkenntnisstreben? Häufig, weil uns unsere Anschauungen vermeintlich Sicherheit und Orientierung bieten. Manchmal aus einem tiefen und echten Bedürfnis, unser “Ich”, unsere Identität, diese atemberaubende Komplexitätsreduktion intakt zu halten, welche unsere existenzielle Achterbahnfahrt der Absurdität entheben und damit erträglicher machen soll.
Wenn wir genauer hinschauen, dann können wir erkennen, dass wir zwar etwas aus unserer Perspektive über die Welt sagen können oder vielleicht auch nur darüber, wie wir die Welt in unserem Bewusstsein erschaffen, aber kaum etwas, das über den gegenwärtigen Augenblick hinaus wahr ist. Das liegt an unterschiedlichen Phänomenen unserer existenziellen, menschlichen Situation:
- Das, worüber wir reden können liegt in einem schwer zu fassenden Bereich zwischen Wahrnehmung, Deutung und Ausdrucksvermögen.
- Das, worüber wir reden können ist situativ. Entsteht also in einem komplexen Gefüge aus äußeren Umständen, innerer Verfassung und unserer Fähigkeit, innere Deutungsaktivitäten mit äußeren Umständen mehr oder weniger sinnvoll in Beziehung zu setzen. Deswegen auch Heraklits Spruch: “Man steigt nicht zweimal in den selben Fluss.”
- Das, worüber wir reden können ist beschränkt auf die Perspektive aus der wir auf die Phänomene unserer Welt schauen. Diese Perspektive ist subjektiv.
Dem zufolge sind Objektivität und Wahrheit allenfalls demokratische Mehrheiten-Phänomene. Momentane Mehrheiten-Phänomene, die sich in Gruppen ereignen, deren Mitglieder sich bezogen auf einen bestimmten Sachverhalt als relevante Deuter betrachten oder von Außenstehenden als solche betrachtet, bewertet und anerkannt werden. Zum Beispiel:
- Privat: Familienmitglieder und hier meist die älteren, wenn sie das in den wechselseitigen Verletzungen nach Klärung schreiende familiäre Geschichtenerbe (Glaubenssätze, Regeln und Familienmärchen) machtvoll und ungeklärt weitergeben. Diese Geschichten wirken solange aktiv, wie die Wahrheitsverkünder noch nicht senil oder tot sind und später wirken sie passiv in den verinnerlichten “Wahrheiten” der überlebenden Geschichtenerben weit über Senilität und Tod hinaus. Letztere werden dann zu den Wahrheitskündern der nächsten Generation.
- Gesellschaftlich: Politiker, die als Wahrheitskünder im Kontext ihrer politisch modischen Momentanfärbung wirken mit ihren Parteimitgliedern. Professionelle Spirituelle im Kontext ihrer religiösen Heimatangebote, aber doch oft mentalen Gefängnisse, die sie als Paradies und Heimat darbieten mit ihren zugehörigen Schafen.
- Wissenschaftlich und pseudo-wissenschaftlich: Forscher, Autoren und Berater im Feld ihrer jeweiligen Expertise mit ihren Jüngern also Anschauungsanhängern, anbetungswütigen Lesern und sich selbst entmündigenden Kunden.
Objektivität und Wahrheit sind vorübergehendes Ergebnis eines Wahrnehmungs-, Deutungs- und Beschreibungsabgleichs zwischen relevant auf einander bezogenen Individuen, bei welchem diese Individuen aus ihrer jeweiligen Perspektive heraus ähnliche Modelle und Worte (häufig Klischees) nutzen, um ihnen bedeutsame Phänomene zu beschreiben.
Häufig wird hier in leidvollen Kompromissen die alte Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Rang (also das biologisch-soziale Bedürfnis nach Herden- und Stammeszugehörigkeit und bedeutungsvoller Verortung darin) gegen die neuere Sehnsucht nach Individuation sowie Selbstentfaltung und in der Konsequenz nach Transzendenz ausgespielt. Der Ruf nach wahrhaftigem, menschlichem und mutigem Handeln in der Spannung zwischen beiden Polen, Zugehörigkeit und Individuation, wird meist durch wilden Alltagslärm überdeckt. Oder die existenziellen Antennen werden durch Rückzug nach innen ins virtuelle, vom Fühlen losgelöste Denken aus der Wahrnehmung ausgekoppelt.
“Yo Alder, iss ja schön das alles, aber was willst du eigentlich sagen?”
Ich will sagen,
- dass wir selten Wahrheiten verkünden, wenn wir uns ins wundervolle Land der Worte begeben und uns darin bewegen.
- dass Wahrheit etwas ganz und gar Flüchtiges und Ungreifbares ist. So sie denn überhaupt existiert und wir mit diesem höchst anspruchsvollen Begriff umgehen wollen.
- dass wir uns in unserer Kommunikation über die Herausforderungen, Lösungswege und Ergebnisse unseres Handelns in einem kontinuierlichen inneren und äußeren Deutungsprozess mit uns selbst und anderen befinden, welcher uns manchmal Erkenntnisse, Rezepte und Antworten liefert, häufig aber eben nur flüchtige “Wahrheiten”, die eben noch hilfreich waren und jetzt schon zur nächsten mentalen Falle mutieren.
Das wesentliche Moment unserer Reflexions- und Bewältigungsaktivitäten liegt, entgegen der landläufigen Auffassung, weniger im Wissen, der Erkenntnis und den Konzepten, als vielmehr im intensiven und engagierten Erkenntnis-, Bewältigungs- und Reflexionsprozess selbst.
Wir, und möglicherweise das Leben durch uns, befinden uns in einer kontinuierlichen, lebendigen Bewusstwerdung und Bewusstseinsevolution. Eine unbeständige und beunruhigende Entwicklung und Situation, zumindest bis wir Ruhe, Geborgenheit und Gelassenheit nicht mehr im Stillstand und Ankommen suchen, sondern in der Bewegung, und uns in der Konsequenz immer inniger, konsequenter und radikaler dieser inneren und äußeren Entwicklungsbewegung anvertrauen.
Im Vertrauen auf diese Entwicklungsbewegung finden wir Geborgenheit, Gelassenheit und tiefe Lebensfreude. Je mehr wir uns in diese Bewegung hinein begeben, umso schwieriger wird es, mit uns selbst, unseren Lebensbedingungen und den Menschen zu hadern. Und genau das ist der Grund, warum wir dort, wo wir die vermeintliche Sicherheit unserer Wahrheiten eintauschen gegen Unwissenheit, Neugierde und Staunen über die unfassbare Weite und Tiefe unserer Existenz, zum Frieden in der Welt beitragen.
Dieser Artikel ist voller Lügen
Meine Texte befinden sich also außerhalb jeglichen Wahrheitsanspruchs. Literarisch tieffliegend, relativ eindeutig und philosophisch tiefschürfend wollen sie Katalysatoren sein, die Sie zu Reflexion, innerer Klärung und produktiver Entwicklung anregen. Texte, die ohne Wahrheitsanspruch Zeugnis ablegen von
- meiner Art, meiner Berufung zu folgen,
- meiner Art über Alltagsprobleme abstrakter (philosophische Autoren- und Denkerprobleme), existenzieller (buddhistische Mönchsprobleme) und konkreter (Unternehmer, Papa, Partner, Freund) Natur nachzudenken und
- meiner Art, aus dem in vielen Jahren erbeuteten Wissens- und Erfahrungsschatz zu schöpfen, um einigermaßen glücklich, intensiv und gelassen zu leben.
Nehmen Sie sich, was Ihnen gefällt, aber noch besser, was Ihnen sinnvoll und hilfreich erscheint und entwickeln Sie es weiter! Lösen Sie es in Ihrem Alltag auf und schauen Sie mal, wie es schmeckt! Nehmen Sie den einen oder anderen Blickwinkel ein und finden Sie heraus, wie die Welt von dort aus aussieht!
Wenn es gut läuft, dann werden Sie dabei noch ein kleines bisschen lebendiger. Wenn es noch besser läuft, dann werden Sie glücklicher, mutiger und innerlich freier. Ich bin gespannt, von Ihren Erfahrungen, Experimenten und Erkenntnissen zu hören!
Und wenn Sie das nächste mal denken, Sie hätten recht oder unrecht (was wahrscheinlich seltener vorkommt) mit Ihrer Sichtweise, im Gespräch mit Freund, Partner, Kindern, Kollegen, Kunden, Chef, Guru, Therapeut oder einem Autor, dessen Buch Sie gerade lesen, dann denken Sie an diesen Artikel zurück! Und vielleicht mögen Sie sich ein kleines Sätzchen merken, das die Lage innerlich wie äußerlich entspannen kann: “Das ist eine interessante Perspektive. So habe ich das noch nie gesehen.”
Danach finden Sie sich zwar in der offenen Landschaft lebendiger Begegnung und wertschätzenden Verhandelns über unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten wieder, aber das ist bereichernd und darum geht es doch, oder?