Artikelserie
Gelassenheit - Was ist das eigentlich?
- Gelassenheit, wie andere sie verstehen
- Gelassenheit, wie ich sie verstehe
- Viele Finger. Ein Mond.
Bevor wir zum Ende diese ausführlichen Beitrags zum Begriff der Gelassenheit kommen möchte ich
- dir einige Synonyme für mein Verständnis von Gelassenheit einführen, damit du ein besseres Verständnis für die Tiefe und Weite des Begriffs und der dahinter liegenden Verfassung entwickeln kannst.
- Weiterhin möchte ich dir einen Gedanken mit auf den Weg geben, den ich für wesentlich halte, wenn du gelassen leben willst.
- Schließlich übergebe ich das Wort an große Meister der Gelassenheitspraxis.
Viele Finger, ein einziger Mond
Ich habe Gelassenheit als eine Haltung und Verfassung vorgestellt, die ich unter anderem ausgehend von Erich Fromm, den christlichen Mystikern des Mittelalters, der Praxis und dem Studium des japanischen Soto-Zen und darüber hinausgehend in der Auseinandersetzung mit modernen Gelassenheitspraktiken entwickelt habe.
Diese Form von Gelassenheit, finden wir in vielen Begriffen wieder, die mal auf eine eher passiv genießerische Verfassung abheben, wie wir sie aus Beschreibungen transzendenter und religiöser Erfahrung kennen. Hierzu gehören
- Einssein,
- Verschmelzen mit Gott und dem Leben,
- Glücksseligkeit,
- Nirvana,
- Verzückung,
- innere Weite oder
- innere Freiheit.
Mal bezieht sie sich stärker auf eine von Leichtigkeit beseelte Aktivität, wie wir sie
- im taoistischen Wu-Wei – Nicht-Handeln, aber eigentlich: sich im Handeln vergessen,
- im zen-buddhistischen Hej sho shin ko re do – Alltag und Wahrheit sind ein und dieselbe Sache,
- in der christlichen Viva Activa – der beseelten, demütigen Aktivität,
- in Erich Fromms Orientierung am Sein,
- in der modernen Achtsamkeitspraxis eines Thich Nhat Hanh oder Jon Kabat Zinn und
- ansatzweise im Flow-Begriff von Csíkszentmihályi wiederfinden.
Ein wichtiger Hinweis: Gelassenheit im Alltag
Gelassenheit wie ich sie verstehe trifft somit keine Aussage darüber, ob wir aktiv sind oder ruhen. Und selbst, wenn manche Menschen sich Gelassenheit für Situationen wünschen, in denen sie aktuell ganz aufgeregt und angespannt sind, so ist sie doch keine kleine Fee, die auf Zuruf daher geeilt kommt, während wir mal wieder engagiert über uns und andere hinweg latschen.
Sie bezieht sich auf eine innere Verfassung, mit der wir uns sowohl durch die ruhigen als auch durch die anspruchsvollen Situationen unseres Lebens bewegen, wenn wir in diesen Situationen unserer Eingebung, unserer Intuition und unserer Körperweisheit folgen.
Was diese Verfassung am stärksten kennzeichnet, ist die paradoxe Gleichzeitigkeit von drei Phänomenen:
- Wir sind vollkommen präsent im Körper – das Denken und Fühlen eingeschlossen.
- Wir sind vollkommen präsent in der Beziehung zwischen uns und der Umwelt.
- Wir vergessen uns vollständig in der Aktivität und in der Beziehung zur Umwelt.
Das Paradoxe: Wir sind gleichzeitig vollkommen präsent und vergessen uns vollständig.
Stellt sich die Frage, wie wir diese Gelassenheit kultivieren können
Es gibt unendliche Möglichkeiten, Gelassenheit im Alltag zu praktizieren. Ein ganz besonders beliebter dieser Tage ist Achtsamkeit. Aber Vorsicht: Auch auf dem Weg der Achtsamkeit gibt es viel Raum, willkürlich und egozentriert an der kontroll-wütigen und potentiell zwanghaften Oberfläche des Lebens zu bleiben.
Die befreiende Quadratur des Kreises, die ich als jenes Paradox beschrieben habe, bei dem wir vollkommen präsent sind und uns gleichzeitig vollständig vergessen, wird auf dem Weg gelassener Produktivität erst dadurch möglich, dass wir zur Achtsamkeitspraxis eine wesentliche Praxis hinzufügen.
Diese ist von großer existenzieller Tragweite, weil sie unsere Beziehung zum Leben selbst, zu Gott, zur kosmischen Ordnung, zum Lauf der Dinge, zum Tao, zum Schicksal oder wie auch immer du das nennen willst betrifft:
Wir können gelassen produktiv sein und produktive Glückseligkeit kultivieren, wenn wir unserem Herzen, also dem Ruf des Lebens folgen oder strenger, mit den Worten Viktor Frankls formuliert, gewissenhaft leben.
Ich behaupte, dass dies dann gelingt, wenn wir uns lösungsorientiert mit unseren Problemen und Herausforderungen auseinandersetzen, und unsere Träume und Herzenswünsche ernst nehmen.
Kurzum: Ich vertraue auf den pragmatischen Weg gelassener Potentialentfaltung mitten im Tumult des Alltags, der Gelassenheitspraxis und Zielorientierung auf leichte und spannende Art verbindet.
Den großen Meistern gebühren die letzten Worte …
Zum Abschluss einige Worte großer spiritueller Meister und Denker über Gelassenheit:
Eihei Dogen, einer der bedeutendsten Meister des japanischen Soto-Zen, hat es einmal so formuliert: “Den Weg (spirituelle Praxis) zu üben, bedeutet sich selbst studieren. Sich selbst studieren, heißt sich selbst vergessen. Sich selbst vergessen, heißt mit dem Kosmos verschmelzen.”
Shunryu Suzuki, ein moderner, gewitzter Zen-Meister, hat es anders gesagt:
“Wenn ihr etwas tut, sollt ihr euch vollständig verbrennen, wie ein gutes Feuer, ohne dass eine Spur von euch zurück bleibt.”
Doch im Grunde kann man sprachlich schwer fassen, was es mit jener Gelassenheit auf sich hat, die ich meine. Ein weiterer Zen-Spruch dazu:
“Der Finger, der auf den Mond zeigt, ist nicht der Mond.”
Das heißt: Die Worte verweisen auf etwas, das wir nur in der Begegnung mit der Wirklichkeit erfahren können, wenn wir uns mit unserer ganzen Existenz dem Leben anvertrauen.
Lyrik, Gedichte und andere Formen der Kunst ermöglichen uns manchmal, näher an den Mond heranzukommen als über erklärende Worte. Wittgenstein aber schlug den radikalsten Weg ein, den wir bereits von den großen Meistern des Rinzai-Zen in Japan kennen. Er verstand, dass der Mond hell leuchtend am dunklen Himmel steht. Weshalb dann noch auf das Offensichtliche zeigen?
In der Konsequenz formulierte er ein recht strenges, aber ziemlich einleuchtendes Paradigma:
“Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.”
Es im Handeln und Nicht-Handeln absichtslos verkörpern ist die vermutlich die wirkungsvollste Art, über Gelassenheit zu “sprechen”.
…