Artikelserie
Gelassenheit - Was ist das eigentlich?
- Gelassenheit, wie andere sie verstehen
- Gelassenheit, wie ich sie verstehe
- Viele Finger. Ein Mond.
Aber was verstehe ich unter Gelassenheit? Um dem näher zu kommen bediene ich mich einer komplexen Definition und nutze zwei kompakte Anleitungen, um dir eine erste theoretische Annäherung zu ermöglichen.
Darüber hinaus zeige ich auf, bei wem ich geistige Anleihen für mein Verständnis von Gelassenheit gemacht habe.
Meine Definition von Gelassenheit
Gelassenheit ist
- eine aktiv-achtsame Haltung,
- eine lebendige innere Verfassung,
- ein wohliges Lebensgefühl,
das sich dann einstellt,
- wenn wir in Kontakt mit dem sind, was sich hier und jetzt zeigt und ausgehend davon
- in Übereinstimmung mit unserer Intuition oder Körperweisheit und
- in achtsamer Beziehung, mit Menschen und Dingen handeln.
Komprimierte Anleitungen zur Gelassenheitspraxis
Die komprimierte Anleitung für ein gelassenes Leben habe ich im “Achtsamen Lustprinzip” zusammengefasst:
Wir entfalten wesentliche Potentiale und kommen in unsere Mitte, wenn wir in Resonanz mit uns selbst und in produktiver Spannung mit Menschen und Dingen handeln.
Das gleiche einfacher gesagt:
Wir entfalten wesentliche Potentiale und kommen in unsere Mitte, wenn wir unserer Lust achtsam folgen und dabei behutsam, sorgfältig und wertschätzend mit Menschen und Dingen umgehen.
Abgrenzung zur stoischen Gelassenheit und zur Laissez-faire-Haltung
Die beiden Formen der vermeintlichen Gelassenheit, die ich zuvor beschrieben habe, setze ich mit meiner Definition der Gelassenheit außer Kraft.
- In der Gelassenheit, die ich meine, sind wir mit unserem Herzen verbunden und intensiv körperlich präsent. Beides schließt Gefühllosigkeit aus.
- In der Gelassenheit, die ich meine, begegnen wir uns selbst, den Menschen und den Dingen mit Dankbarkeit, Achtsamkeit und Wertschätzung. Diese Art, in Kontakt mit der Welt zu sein, ist das exakte Gegenteil von Gleichgültigkeit.
- In der Gelassenheit, die ich meine, fühlen wir uns zutiefst unserem Gewissen verpflichtet. Wir lauschen auf den Ruf des Lebens und folgen diesem mutig und manchmal sogar radikal – auch, wenn wir uns vielleicht ein bequemeres Leben wünschen. Dies schließt Aktivitäten und Anforderungen ein, die weit außerhalb der Laissez-Faire-Zone, oder mit einem anderen Begriff benannt, der Komfortzone liegen.
Diese Art zu leben beinhaltet darüber hinaus Momente, in denen wir in intensiven Kontakt und Austausch mit der Welt gehen. Gleichsam umfasst diese Lebensweise Momente, in denen wir uns aus der Welt zurückziehen, um innere Klärung, Neuordnung und Inspiration zu ermöglichen.
Eine dauerhafte Weltabgewandtheit ist in diesem Verständnis dann möglich, wenn uns das Leben tatsächlich auf diesen Weg ruft. Weniger aber, als Strategie, um uns um wesentliche Entwicklungsaufgaben herumzudrücken.
Die Schultern, auf denen ich stehe
Wie du dir denken kannst, habe ich meine grundlegende Gelassenheitsauffassung nicht mal eben aus dem Ärmel geschüttelt. Seit 25 Jahren beschäftige ich mich intensiv mit der Frage, wie wir
- einerseits unsere Potentiale entfalten und zielorientiert, also produktiv leben können, und
- andererseits in unsere Mitte und in die Gegenwart kommen, also gelassen leben können.
Dabei habe ich manches ausgemustert, manches auf neue Art zusammengeführt und manches weiterentwickelt.
Begonnen habe ich diese Auseinandersetzung mit den Büchern “Die Kunst des Liebens” und “Haben oder Sein” von Erich Fromm. Er hat für diese Form der Gelassenheit den Begriff des “Seins” oder der “Orientierung am Sein” geprägt und tat dies in Abgrenzung zur Haltung des “Habens” oder der “Orientierung am Haben”.
Bei Erich Fromm fand ich auch den Verweis auf Meister Eckart, den großen deutschen Mystiker des Mittelalters. In seinen Predigten und Traktaten nimmt er einiges auf sich, beim Versuch, Worte für das Unaussprechliche zu finden, das jene Gelassenheit ausmacht, die ich meine.
Noch viel wichtiger aber, fand ich bei Fromm den Hinweis auf Eugen Herrigels Buch „Zen in der Kunst des Bogenschießens“ und Nyanaponika Mahatheras Buch „Geistesschulung durch Achtsamkeit“, die mich dann über Robert Aitkens Buch „Zen als Lebenspraxis“ und Pater Enomiya-Lassalles Bücher über Zen zur Praxis des japanischen Soto-Zen brachten.
Vieles von dem, was ich mit meinem Lehrer, Olivier Rei Gen Wang-Genh, mit den vielen, lieben Gefährten und in der Auseinandersetzung mit dem immensen geistigen Schatz des Buddhismus in fünfzehn Jahren intensiver Praxis lernen durfte, übersteigt, was ich fassen und aussprechen kann. Aber es umfasst auch vieles, das ausgesprochen und vermittelt, vor allem aber gelebt werden will.
Mit dem Zurücklassen der formalen Praxis des Zen-Buddhismus vor sechzehn Jahren hat sich mein Blick nach und nach für viele andere Formen und Wege alltagsnaher und zeitgemäßer Gelassenheitspraxis geweitet.
Bevor wir zum Ende diese ausführlichen Beitrags zum Begriff der Gelassenheit kommen möchte ich
- dir einige Synonyme für mein Verständnis von Gelassenheit einführen, damit du ein besseres Verständnis für die Tiefe und Weite des Begriffs und der dahinter liegenden Verfassung entwickeln kannst.
- Weiterhin möchte ich dir einen Gedanken mit auf den Weg geben, den ich für wesentlich halte, wenn du gelassen leben willst.
- Schließlich übergebe ich das Wort an große Meister der Gelassenheitspraxis.
Viele Finger, ein einziger Mond
Ich habe Gelassenheit als eine Haltung und Verfassung vorgestellt, die ich unter anderem ausgehend von Erich Fromm, den christlichen Mystikern des Mittelalters, der Praxis und dem Studium des japanischen Soto-Zen und darüber hinausgehend in der Auseinandersetzung mit modernen Gelassenheitspraktiken entwickelt habe.
Diese Form von Gelassenheit, finden wir in vielen Begriffen wieder, die mal auf eine eher passiv genießerische Verfassung abheben, wie wir sie aus Beschreibungen transzendenter und religiöser Erfahrung kennen. Hierzu gehören
- Einssein,
- Verschmelzen mit Gott und dem Leben,
- Glücksseligkeit,
- Nirvana,
- Verzückung,
- innere Weite oder
- innere Freiheit.
Mal bezieht sie sich stärker auf eine von Leichtigkeit beseelte Aktivität, wie wir sie
- im taoistischen Wu-Wei – Nicht-Handeln, aber eigentlich: sich im Handeln vergessen,
- im zen-buddhistischen Hej sho shin ko re do – Alltag und Wahrheit sind ein und dieselbe Sache,
- in der christlichen Viva Activa – der beseelten, demütigen Aktivität,
- in Erich Fromms Orientierung am Sein,
- in der modernen Achtsamkeitspraxis eines Thich Nhat Hanh oder Jon Kabat Zinn und
- ansatzweise im Flow-Begriff von Csíkszentmihályi wiederfinden.
Ein wichtiger Hinweis: Gelassenheit im Alltag
Gelassenheit wie ich sie verstehe trifft somit keine Aussage darüber, ob wir aktiv sind oder ruhen. Und selbst, wenn manche Menschen sich Gelassenheit für Situationen wünschen, in denen sie aktuell ganz aufgeregt und angespannt sind, so ist sie doch keine kleine Fee, die auf Zuruf daher geeilt kommt, während wir mal wieder engagiert über uns und andere hinweg latschen.
Sie bezieht sich auf eine innere Verfassung, mit der wir uns sowohl durch die ruhigen als auch durch die anspruchsvollen Situationen unseres Lebens bewegen, wenn wir in diesen Situationen unserer Eingebung, unserer Intuition und unserer Körperweisheit folgen.
Was diese Verfassung am stärksten kennzeichnet, ist die paradoxe Gleichzeitigkeit von drei Phänomenen:
- Wir sind vollkommen präsent im Körper – das Denken und Fühlen eingeschlossen.
- Wir sind vollkommen präsent in der Beziehung zwischen uns und der Umwelt.
- Wir vergessen uns vollständig in der Aktivität und in der Beziehung zur Umwelt.
Das Paradoxe: Wir sind gleichzeitig vollkommen präsent und vergessen uns vollständig.
Stellt sich die Frage, wie wir diese Gelassenheit kultivieren können
Es gibt unendliche Möglichkeiten, Gelassenheit im Alltag zu praktizieren. Ein ganz besonders beliebter dieser Tage ist Achtsamkeit. Aber Vorsicht: Auch auf dem Weg der Achtsamkeit gibt es viel Raum, willkürlich und egozentriert an der kontroll-wütigen und potentiell zwanghaften Oberfläche des Lebens zu bleiben.
Die befreiende Quadratur des Kreises, die ich als jenes Paradox beschrieben habe, bei dem wir vollkommen präsent sind und uns gleichzeitig vollständig vergessen, wird auf dem Weg gelassener Produktivität erst dadurch möglich, dass wir zur Achtsamkeitspraxis eine wesentliche Praxis hinzufügen.
Diese ist von großer existenzieller Tragweite, weil sie unsere Beziehung zum Leben selbst, zu Gott, zur kosmischen Ordnung, zum Lauf der Dinge, zum Tao, zum Schicksal oder wie auch immer du das nennen willst betrifft:
Wir können gelassen produktiv sein und produktive Glückseligkeit kultivieren, wenn wir unserem Herzen, also dem Ruf des Lebens folgen oder strenger, mit den Worten Viktor Frankls formuliert, gewissenhaft leben.
Ich behaupte, dass dies dann gelingt, wenn wir uns lösungsorientiert mit unseren Problemen und Herausforderungen auseinandersetzen, und unsere Träume und Herzenswünsche ernst nehmen.
Kurzum: Ich vertraue auf den pragmatischen Weg gelassener Potentialentfaltung mitten im Tumult des Alltags, der Gelassenheitspraxis und Zielorientierung auf leichte und spannende Art verbindet.
Den großen Meistern gebühren die letzten Worte …
Zum Abschluss einige Worte großer spiritueller Meister und Denker über Gelassenheit:
Eihei Dogen, einer der bedeutendsten Meister des japanischen Soto-Zen, hat es einmal so formuliert: “Den Weg (spirituelle Praxis) zu üben, bedeutet sich selbst studieren. Sich selbst studieren, heißt sich selbst vergessen. Sich selbst vergessen, heißt mit dem Kosmos verschmelzen.”
Shunryu Suzuki, ein moderner, gewitzter Zen-Meister, hat es anders gesagt:
“Wenn ihr etwas tut, sollt ihr euch vollständig verbrennen, wie ein gutes Feuer, ohne dass eine Spur von euch zurück bleibt.”
Doch im Grunde kann man sprachlich schwer fassen, was es mit jener Gelassenheit auf sich hat, die ich meine. Ein weiterer Zen-Spruch dazu:
“Der Finger, der auf den Mond zeigt, ist nicht der Mond.”
Das heißt: Die Worte verweisen auf etwas, das wir nur in der Begegnung mit der Wirklichkeit erfahren können, wenn wir uns mit unserer ganzen Existenz dem Leben anvertrauen.
Lyrik, Gedichte und andere Formen der Kunst ermöglichen uns manchmal, näher an den Mond heranzukommen als über erklärende Worte. Wittgenstein aber schlug den radikalsten Weg ein, den wir bereits von den großen Meistern des Rinzai-Zen in Japan kennen. Er verstand, dass der Mond hell leuchtend am dunklen Himmel steht. Weshalb dann noch auf das Offensichtliche zeigen?
In der Konsequenz formulierte er ein recht strenges, aber ziemlich einleuchtendes Paradigma:
“Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.”
Es im Handeln und Nicht-Handeln absichtslos verkörpern ist die vermutlich die wirkungsvollste Art, über Gelassenheit zu “sprechen”.
…