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Wir können so tun und tun so, als seien Phänomene, wie Burnout-Erkrankungen, Midlife-Crisis (das Vorläufer-Modell), Depressionen, koronare Herzerkrankungen und vielfältige psychische Erkrankungen tatsächlich den modernen Zeiten, der Schnelllebigkeit, der Komplexität, der großen Orientierungslosigkeit und der sich öffnenden sozialen Schere geschuldet. Wir können so tun und tun so, als hätten Konflikte in Nahost tatsächlich mit einer Reaktion auf extremistische Gruppierungen, kultivierter Auge-und-Zahn-Eskalation zwischen extremistischen Gruppierungen oder mit Zugang zu knappen Rohstoffen zu tun. Ich bin mir sicher, dass es eine unendliche Anzahl an Studien gibt, welche diese Zusammenhänge belegen. Und ich bin mir sicher, dass es noch vielmehr Meinungen zu diesen Phänomenen gibt, die kontinuierlich zwischen unterschiedlichen Menschen hin und her wandern.

Wieso mir selbst den Todesstoß versetzen?

Diese Geschichten oder Meinungen über die Dinge machen in vielen Fällen logisch Sinn – natürlich unterschiedlich Sinn, je nach dem, wessen Perspektive der Meinungsvertreter oder Forscher einzunehmen geneigt ist. Ich gebe zu, dass ich eigene Gedanken entwickle und meinen eigenen Meinungen anhänge, doch diese führen in eine andere Richtung – hin zu mir selbst. Weniger, weil ich mich narzistisch als Nabel der Welt begreife – auch wenn das eine von mir unterschätze Rolle spielen mag -, als vielmehr, weil ich mich für ziemlich ohnmächtig im Umgang mit den Dynamiken und Kräften da draußen halte und meiner Sehnsucht nach machtvollem Einfluss oder kürzer effektivem Machen erliege. Deshalb bin ich geneigt, mich als Konsument wissenschaftlicher oder einfach moderner Mythen zurückzuziehen, die sich mit Dingen da draußen befassen, auf die ich leidlich durch Gebete und frommes Wünschen Einfluss nehmen kann. Das Rauschen der ewigen Nachrichtenbrandung macht mich ganz kirre und ich fühle mich schon ohne diese schäumenden journalistischen Fluten ohnmächtig genug. Wieso mir selbst den Todesstoß versetzen?

Ganz unabhängig von den Aposteln medialer Aufklärung, die mit Kamera, Laptop, Mikrofon, Anzug und Krawatte bewaffnet, vorgeben, Demokratie, Gerechtigkeit und Menschlichkeit zu propagieren, lebe ich als Idealist schon lange innig vertraut mit der Vorstellung, vieles sei im Argen und müsse korrigiert werden. Es fällt mir leicht, zu sehen, was in der Welt, dem Nahen Osten, bei den religiösen Fanatikern diesseits und jenseits des Atlantiks, oder näher, bei meinen Kindern, meiner Frau, meinen Freunden und Nachbarn anders laufen müsste. Das Ganze ist doch überschaubar und offensichtlich:

  • Die Einen leben noch im Mittelalter und müssten mal gucken, dass sie endlich hinterher kommen.
  • Die anderen sind zu borniert.
  • Diese hier wirtschaften in die eigene Tasche.
  • Jene dort sind kollektiv traumatisiert, faul oder beides.
  • Die Eine hat Hormone, der Andere müsste mal an etwas dran bleiben.
  • Diese hier müsste sich selbst und ihre Träume ernster nehmen.
  • Der andere da müsste mal mit dem ewigen Gejammer aufhören und Taten auf Worte folgen lassen.

Da kann ich sehr gut mitgehen und wenn Sie mir ein bisschen Zeit zum Aufwärmen lassen, dann komme ich so richtig in Fahrt.

Im besten Fall endet man bei der eigenen Frisur

Wenn ich aber einen kleinen Schritt zurücktrete und mir eine ergänzende Frage stelle, dann wird alles ganz schnell weniger eindeutig:

Wie viel liegt tatsächlich da draußen im Argen und wie viel hier, ganz nah bei mir?

Schon mal versucht, einen Menschen im Inneren eines ICE durch die Scheibe auszumachen? Man endet immer bei der eigenen Frisur, so man eine hat, oder bei der kindlichen Freude an Grimassen…

Schaue ich durch ein Fenster oder guck ich in einen Spiegel? Es ist schwierig, zumindest für mich, zu einer eindeutigen Antwort zu kommen. Ich weiß nicht, ob Sie traumatisiert, faul, schräg, unglücklich, selbstverliebt, desinteressiert, borniert, egozentrisch oder angepasst sind. Irgendwie fühle ich mich bei alledem doch merklich an mich selbst erinnert.

Kann ich wirklich sicher sein, die Welt dort draußen zu sehen und zu analysieren? Und selbst wenn, wie zuversichtlich kann ich sein, die aus meinen Forschungen und Analysen abgeleiteten Schlüsse und Empfehlungen würden dort draußen in der fernen, fremden Welt beherzigt werden und zu positiven Entwicklungen führen? Wie viel echte Wirkung bringe ich hervor, indem ich mich über diese Dinge bilde, mich mit anderen über diese Dinge austausche und an anderer Stelle moralisch, menschlich oder sonstwie motiviert die Lanze für eine Initiative breche? Wie viel echte Wirkung kann ich da draußen entfalten, solange ich diese Wirkung nicht in mir selbst hervorbringe?

  • Will ich wirklich Frieden im Nahen Osten oder möchte ich mich lieber weiter an meiner Rolle als heldenhafter Friedensstreiter berauschen?
  • Möchte ich vielleicht einfach an den Entwicklungen dran bleiben, um mitreden zu können?
  • Oder möchte ich intensive, unterhaltsame Momente im Austausch mit anderen über diese Entwicklungen verbringen?

Was kann ich konkret tun, wenn ich Frieden in der Welt schaffen möchte? Was kann ich konkret tun, wenn ich Glück, Gelassenheit und Leichtigkeit unter den Menschen propagieren möchte?

Vielleicht ist ein großer Teil unserer Auseinandersetzung mit den Dingen da draußen weniger wesentlich und bedeutsam, als wir in unserer bildungsbürgerlichen Attitüde annehmen. Vielleicht tarnen wir unsere Freude an Sensationen und komplex unterfütterten cerebralen Kicks mit Bildungs-, Humanisierungs- und Informationsambition und haben doch vor allem eins im Sinn: Ein wundervoll prickelndes und intensives Ablenkungsmanöver, mit dem wir kontinuierlich über ein viel naheliegenderes und durch diese Nähe deutlich unbequemeres Forschungsobjekt hinweg rumpeln.

Vom Nahen Osten zum fernen Selbst

Deshalb frage ich mich, ob wir mit solchen Studien am fernen, fremden Objekt und als versierte und verständige Konsumenten dieser Studien schon weit genug gehen.

  • Vielleicht sollten wir uns besser von den Analysen an fremden Kollektiven und den von Experten getragenen Veränderungsinitiativen auf naheliegendere Forschungsgegenstände verlegen und hier angemessene Initiativen starten.
  • Vielleicht sollten wir unsere Nachbarn, Freunde, Kollegen, Partner und Kinder endlich mal in Ruhe lassen mit unserem Genörgel, unseren guten Ratschlägen und unserer beeindruckenden Übersicht und uns fragen, was wir unter Zuhilfenahme dieser Projektionen über uns selbst lernen können.
  • Vielleicht sollten wir auf den naheliegendsten Forschungsgegenstand wechseln, uns selbst, und die elaborierte Analyse da draußen durch aktive Feldforschung hier und jetzt ersetzen sowie unser Engagement da draußen, durch engagierte Auseinandersetzung mit uns selbst.

Dann kämen wir vielleicht ganz schön in die Bredouille. Vielleicht würden wir erkennen, dass wir nicht gleichzeitig für Frieden in Nahost kämpfen können, wenn wir glücklich, gelassen und friedfertig leben wollen. Oder wir würden erkennen, dass wir uns vom Lauschen, Reden und Berauschen aufs konkrete Handeln verlegen sollten. Vielleicht würden wir erkennen, dass es keinen objektiv wirkungsvollen und moralisch abgesicherten Weg gibt, Frieden, Gerechtigkeit und Glück in der Welt zu nähren, sondern nur einen ganz subjektiven und einzigartigen, nämlich unseren eigenen. Vielleicht wäre es sogar der engagiert und unbequem journalistische…

Aber vielleicht würden wir zuallererst merken, dass wir gar nicht so genau wissen, wie wir Glück und Gelassenheit kultivieren können und wo wir mit diesem Unterfangen beginnen sollen. Vielleicht würden wir das erste mal oder wieder einmal unseren Kopf über das Alltagsgedöhns hinaus recken, in unserer Lebenslandschaft auftauchen und merken, dass wir von allem Möglichen umgeben sind, wo wir uns auf Wesentliches verlegen sollten oder von einem weiten Meer an Wesentlichem, das wir mit ein paar lustig schaukelnde Bötchen und wilden Kite-Surfern bevölkern sollten.

Vielleicht wäre dann ein guter Moment, dran zu bleiben, an diesem fremden, doch so unglaublich nahen und intimen Forschungs- und Entwicklungsobjekt… uns selbst…

Mista Lazy Moe

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