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Meine Nachbarin, eine nette ältere Dame, bringt mir immer wieder Croissants zum Frühstück und wenn die Kinder da sind auch mal einen leckeren Hefezopf. Entweder strahlt große Bedürftigkeit aus meinem runden Gesicht, was einen Widerspruch in sich darstellt, oder die liebe Nachbarin möchte uns einfach etwas Gutes tun. Doch leider habe ich mit diesen milden und überaus großzügigen Gaben ein klitzekleines Luxusproblem: Croissants sind ausgesprochen lecker, doch von einem allzu großen Reichtum an Inhaltsstoffen. Heute bin ich geradezu in Bedrängnis geraten: An meiner Türe fand ich zwei Buttercroissants und eine Schokoladenvariante.

Was tun? Wegwerfen oder weiter verkaufen schienen mir als Handlungsalternativen moralisch verwerflich. Ersteres, über den Umweg der Tauben moralisch ansehnlicher zu gestalten, führt dummerweise zu Problemen in modernen Städten. Und letzteres ist, ganz abgesehen von der Ethik, aus Mangel an entsprechenden Absatzkanälen ebenfalls schwierig.

Die Nachbarin ermutigen, weniger oder Gesünderes zu bringen, war von leidlichem Erfolg gekrönt. Unter der Woche kommen jetzt manchmal leckere Müslistangen von K&U, die ich sehr empfehlen kann und die mich quasi über den ganzen Tag bringen, aber am Wochenende und an Feiertagen werden diese nicht gebacken.

Verschenken schien die beste Lösung zu sein: Durch die Innenstadt schleichen, nach Menschen Ausschau halten, die am Wegesrand sitzend um Unterstützung bitten, und diese fragen, ob sie ein Croissant (oder Fertigkuchen, der sich ebenfalls in meinem Sortiment befand) annehmen möchten. Natürlich einzeln und tagesfrisch verpackt in einer Bäckerstüte.

Kaum hatte ich meine Klause verlassen, über Croissants und Kuchen hinaus mit Flyern ausgestattet, welche auf meine Angebote aufmerksam machen sollen, trug mir der Wind aus einigen hundert Metern Entfernung das überlieferte Mantra der linken Idealisten entgegen: “Hoch, die internationale Solidarität”. Ein neues Mantra war hin und wieder zu hören, das ich in phonetischer und poetischer Hinsicht noch schöner fand: “A-Anti-Anticapitalista.”

Immerhin passte der Singsang ganz gut zu meinem, gemessen an den Idealen der Demonstranten, banalen Unterfangen. “Think global, act local” habe ich irgendwo mal gehört und damit meine Helfereitelkeit ein bisschen gehätschelt. “Pah, sollen die doch die Welt retten, ich kümmere mich tatkräftig um den Nachbarn in Not” oder so ähnlich.

Kaum hatte ich die Eisenbahnstraße erreicht, auf der sich sonst einige Vertreter des alten, wenig ehrwürdigen, aber durchaus anspruchsvollen Handwerks der Bettelei tümmeln, traf mich der Blitz spontaner Erkenntnis mit dem Paradox des internationalen Tages der Arbeit: nur verrückte Unternehmer, Künstler und jene arbeiten, die immer gebraucht werden. Alle anderen haben frei, um sich Gedanken über eine gerechte Gesellschaft, gelassenes Arbeiten und ein sinnvolles Leben zu machen – oder so ähnlich…

Nicht nur die Läden waren geschlossen, nein, es fand sich nur ein einziger, aufrechter Bettler, der auch am Tag der Arbeit sein Tagwerk verrichtete. Er saß da mit einem halb abgeknabberten Eis und einem Kaffee im Pappbecher. Da passte ein Croissant ganz gut dazu. Er nahm es auf meine Frage hin auch gerne entgegen. Was für ein Glück, wenigstens eins wurde ich los.

Doch was sollte ich mit dem Rest machen? Am nächsten Morgen mit zum XING-Frühstück nehmen? Irgendwie peinlich! Am nächsten Tag eingetrocknet an “arme Bedürftige” verteilen? Irgendwie schäbig! Am Ende war ich fast so weit wie zu Beginn meiner ehrgeizigen, aber überschaubaren Wohlstandsumverteilungsaktion. Zum Haareraufen!

Was lässt sich mit einiger Anstrengung aus dieser nahezu gescheiterten Initiative lernen?

  1. Mache Dir Gedanken darüber, wem Du was schenkst, denn die “betroffene” Person könnte dadurch in Bedrängnis geraten.
  2. Suche den Dialog oder nehme Dein Gegenüber mit seinen Bedürfnissen ernst, wenn es sich die Mühe macht, diese zu äußern.
  3. Reichtum macht das Leben vor allem dann leichter und schöner, wenn er sich sinnvoll teilen lässt. In allen anderen Fällen ist er sehr wahrscheinlich eine Last.
  4. Es gibt weniger Armut als ich dachte, denn alle haben etwas zu geben: Die Nachbarin schenkt Gebäck. Der Bettler gibt mir die Möglichkeit, mildtätig zu handeln. Die linken Idealisten versorgen mich mit Mantren und bestenfalls menschlichen Visionen. Die Städtebauer überraschen mich mit einem wunderschönen Brunnen und alten Kastanienbäumen. Ein unrasierter Mönch “verschenkt” Flyer, die auf irgendetwas hinweisen, das für irgendetwas gut sein könnte, das sich nicht so richtig fassen lässt.
  5. Der Klassenkampf ist vielleicht weniger wegen der Verdummung der Massen und der Einlullung durch Konsum und Medien aus der Mode gekommen, als vielmehr, weil er vor allem einer Sache dient, dem Kämpfen. Vielleicht auch, weil sich andere Möglichkeiten durchzusetzen beginnen, die zu direkteren Ergebnissen führen und mehr Freude machen, Teilen zum Beispiel.

Natürlich scheint es wichtig, dass wir uns für Gerechtigkeit und menschliche Bedingungen einsetzen. Aber Gerechtigkeit ist ein ziemlich abstraktes Konzept, das sich vielleicht gar nicht verwirklichen lässt, und menschliche Bedingungen setzen vor allem eines voraus: Menschlichkeit. Letztere breitet sich allerdings nur mit schneckengleicher Gemächlichkeit aus.

Deshalb ist es mindestens ebenso wichtig, dass wir Frieden mit der Wirklichkeit schließen und eine gelassene sowie spielerische Haltung kultivieren. Denn dann verbreitet sich durch unser konkretes, menschliches Handeln in einem wenig idealen Alltag jene Lebensfreude, welche von der bunten Fülle des Lebens zeugt.

Und im besten Fall verweisen wir damit auf einen direkten und erfrischend friedvollen Weg zu Glück und Reichtum, welcher die Sehnsucht nach gleichmachender Gerechtigkeit heilsam beruhigt, jenen in die Mitte dieses gegenwärtigen Augenblicks.

Es hat sich einmal mehr als richtig erwiesen, dass jeder Augenblick für sich selbst sorgt. Beim Aufbruch zum gemeinsamen Mai-Spaziergang mit meiner Süßen bot sich glücklicherweise die Gelegenheit, das leckere Schokoladen-Croissant zu verschenken. Auf dem Weg durch den Wald nach St. Ottilien haben wir darüber hinaus nicht nur den Freiburger Oberbürgermeister “getroffen”, sondern auch einen hungrigen, unrasierten Mönch, der das letzte verbliebene Hörnchen reichlich unachtsam verschlang…

Weiterhin wurde klar, dass die Bettler am ersten Mai einfach später mit der Arbeit beginnen. Vermutlich, weil sie sich wie alle anderen vom Tanz in den Mai erholen müssen. Vielleicht aber auch, weil sie kluge und erfahrene Selbständige sind, die sich nach ihren Kunden richten, welche am Feiertag erst am frühen Nachmittag auf den Flaniermeilen der Innenstadt aufkreuzen.

Bleibt noch der Kuchen. Vielleicht möchte er als süßer Brocken des Anstoßes dienen, der ein aus Kehl stammendes und in Vergessenheit geratenes Ritual in Freiburg wieder auf den Plan ruft: Kaffee und Kuchen bei Wedge. Wir werden sehen…

Und zuletzt

Am Vortag des ersten Mai rief mir eine Frau beim Flyerverteilern aus ihrem frisch geparkten VW-Bus zu, ich solle ihr Auto doch bitte auslassen. Sie meinte, sie sei sicher zu alt für das Angebot. Ich hielt ihr den Flyer mit der Aufschrift “wovon träumst du?” hin. Worauf sie antwortete: “Das ist mir zu philosophisch. Ich brauch jetzt ein Bier.”

Frechheit!

Mista Lazy Moe

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